Die Wurzeln meiner Kindheit

Der Akkuzustand der Kamera sagt, ein bisschen geht da noch. Ich drücke die Zigarette in den Aschenbecher und während das Sonnenlicht Kringel auf den Fussboden und die Wände wirft, packe ich meine Sachen zusammen.
Es braucht nicht viel. Kamera, Zigaretten, Sonnenbrille und das mobilephone mit der vollgetankten mp3Playlist.

Draussen ist es warm, die Luft ist weich. Frühling, gefühlt schon fast Sommer. Ich laufe das kleine Stück die Strasse entlang Richtung Wald. Den Wald meiner Kindheit. Ich war seit langer Zeit nicht mehr dort. Der Weg an der kleinen Brücke über den Bachlauf ist neu befestigt worden. Früher haben wir dort auf dem warmen Holz in der Sonne gesessen, die Beine baumeln und kleine Papierschiffe auf dem Bach schwimmen lassen.

Die Bäume haben längst begonnen, frische grüne Triebe zu entwickeln und auch die Büsche treiben überschwänglich aus. Schön ist das. Herr Regener singt von Kühen und Sonntagen, ich drehe die Lautstärke ein wenig herunter und die Musik mischt sich mit den Geräuschen des Waldes. Irgendwo weiter oben in den Hängen höre ich den dumpfen, gleichmässigen Rhythmus von Pferdehufen auf dem weichen Waldboden. Vor mir läuft eine winzige Feldmaus über den Weg, irgendwo im Unterholz knackt und raschelt es.

Während ich dem kleinen Pfad durch den Wald folge, mischen sich die aktuellen Eindrücke mit den Bildern meiner Kindheit. Ich erkenne einige der Bäume. Oft genug bin ich hinaufgeklettert, sass in den grossen Zweigen. Fast alle finde ich wieder, erkenne sie an ihren verdrehten, grossen Wurzeln. Den ausladenden Ästen, dem weichen, sattgrünen Moos in den Gabelungen.

Hinter der nächsten Kurve läuft in einiger Entfernung vor mir auf dem Weg eine sehr kleine, sehr alte Dame. Sie trägt einen hellen Rock und eine rosa Strickjacke. Ihre Schritte sind zaghaft, aber zielstrebig. Ich bleibe kurz stehen, sehe ihr zu wie sie am Wegesrand entlang läuft um dann an einem der alten Bäume stehenzubleiben. Für einen kurzen Moment legt sie beide Hände flach auf den Stamm, sieht in die Baumkrone hinauf. Den Bruchteil einer Sekunde bin ich versucht, die Kamera hochzunehmen und ein Bild aus der Entfernung von ihr und dieser Berührung zu machen. Ich lasse die Kamera wo sie ist und der Augenblick ist vorbei. Sie wendet sich wieder dem Weg zu und bald verliere ich sie aus den Augen.

Ich photographiere noch ein paar Zweige, Knospen, halte den Blick über die Weide auf den Dorfkern fest und setze mich ein Stück weiter auf eine Bank. Die Brombeerranken neben ihr sind noch kahl und braun, es wird noch dauern bis die Früchte wieder verlockend schwarz und prall in der Sonne glänzen.

Irgendwann, später, laufe ich den Weg wieder zurück. Ich habe unterwegs diverse nette Hunde und ihre Halter getroffen und auch jetzt kommt mir ein ungestümes, braungeschecktes Knäuel aus dem Unterholz entgegengekugelt. Ein junger Podenco. Wie hübsch. Er schnüffelt interessiert erst an meinem Knie, dann an der hingehaltenen Hand. Ich streichele über seinen Kopf und er wedelt begeistert mit der kompletten hinteren Körperhälfte. Aus dem selben Gebüsch tritt seine Besitzerin, weniger ungestüm, aber ebenso freundlich. Sie entschuldigt sich für den Überfall ihres jungen Hundes, der mit knapp 8 Monaten ab und an noch eigene Wege geht.
Sie sieht auf meine Kamera, lächelt und erzählt mir, ich müsse das nächste Mal am besten früh morgens oder zur Dämmerung kommen. Die Rehe sind zurück und stehen mit ihrem Nachwuchs gern auf den Wiesen zwischen den Waldstücken. Ich bedanke mich für den Hinweis und verabschiede mich von Hund und Halterin.

Auf dem Rückweg, bevor ich das Waldstück verlasse, bleibe ich noch einmal für ein Photo stehen. Nach dem Auslösen sagt die Kamera dann „Bitte den Akku aufladen“. Der Strom hat also tatsächlich genau für meine Tour durch den Wald gereicht.

Jetzt leuchtet neben mir die LED der Ladestation und ich warte darauf, die Bilder von der Kamera zu holen. Ich freue mich, dass sie die Wurzeln meiner Kindheit festgehalten hat.

Eine Reaktion zu “Die Wurzeln meiner Kindheit”

  1. nadja

    das mit der alten dame ist toll. und das mit den rehen. vielleicht erwischst du sie tatsächlich?

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