Abstandsbetrachtung

Man sagt, die Dinge brauchen Zeit. Daran glauben wir. So sagen wir es selbst, den Anderen. Wir hören zu, erklären und begleiten die Herzen. Darüber vergeht die Zeit. Vielleicht vergessen wir manchmal für einen Moment, dass diese Zeit auch unsere eigene ist.

Denn nichts trennt uns von der Zeit. Wir bemerken es nur nicht immer.
Das passiert auch mir. Ich habe die Zeit vergessen. Irgendwann habe ich angefangen, sie zu vergessen und jetzt ist sie vergangen. Stunden, Tage, Wochen und schliesslich Monate. Jetzt sehe ich zurück und die Dinge, die ihre Zeit gebraucht haben, die haben sich verändert.
Es gab Nebel, die haben sich gelichtet. Manches hat Konturen bekommen und ich weiss, an welcher Stelle ich es anfassen muss, um es greifen zu können. Ich kann es ansehen und ich kann es fortlegen. Ich habe es angesehen und ich habe es fortgelegt.

Mein Herz und mein Kopf, die sprechen nicht immer verlässlich miteinander. Ich glaube, für mich hat diese Aussage „Die Dinge brauchen ihre Zeit“ eine ganz eigene Bedeutung. Meine Dinge, das sind mein Herz und mein Verstand. Die brauchen ihre Zeit um miteinander zu reden. Um einen gemeinsamen Konsenz zu finden. Denn die beiden, die sind so unterschiedlich, wie sie nur sein könnten.
Mein Verstand hat all die Erfahrungen gesammelt. Hat daraus ein Diagramm gemalt. Mit Pfeilen, Wegen und Formen. Mit Warnungen und Signalen. Mit Schönheit, Stille, Liebe und Vertrauen. Mit Brüchen, Ambivalenzen und Kämpfen. Mit Verletzungen, Wunden, Rissen und ebenso mit Geschenken und wunderbaren Dingen.

Aber mein Herz, das will dann lange Zeit diese Dinge nicht ansehen. Dem Verstand nicht zuhören. Es will randalieren, toben, weinen und sich verweigern. Es ist störrisch und manchmal wütend. Es ist ein Wildfang und ich kann es nur laufen lassen, nicht aber bändigen. So braucht es Zeit, während der Verstand auf mein Herz einredet und irgendwann, da beruhigt es sich. Dann hört es zu und sieht die Dinge an, die der Verstand ihm zeigt.
Das ist dann Moment, wo ich wieder eins werde. Es ist, als würde man 2 Folien auf einem Projektor mit jeweils unvollständigen Hälften eines Bildes langsam wieder zueinander schieben. Stück für Stück, bis die Schnittkanten des Motives wieder zueinander finden und schlussendlich ein vollständiges Bild ergeben.
So schob sich mein Verstand an mein Herz und irgendwann, da habe ich wohl zu mir zurückgefunden.

3 Reaktionen zu “Abstandsbetrachtung”

  1. nadja

    ich habs jetzt zweimal durchgelesen, aber satt bin ich noch nicht.

  2. lordfoltermord

    Und offenbar führt Dein Dichwiederfinden auch zu häufigeren Blogeinträgen, was mich erfreut.

    Deine Beobachtungen kann ich gut nachvollziehen. Ich denke allerdings, dass die Frage, wer wem folgt, recht unentschieden ausgeht. Mitunter benötigt das Herz Zeit, um sich dem Verstand zu nähern. Hin und wieder aber braucht auch der Verstand Zeit, um vorzeigbare „vernünftige“ Gründe zu finden, die eine bereits getroffene Herzensentscheidung legitimieren, vor wem auch immer, ggf. dem eigenen Über-Ich.

    Wichtig ist, dass die beiden, wenn es auch dauern sollte,wieder zueinander finden, sonst leidet man. Meistens finden sie aber schlussendlich zueinander und warum ist das wohl so? Vermutlich weil auch das Herz einen Verstand und der Verstand ein Herz hat.

  3. aebby

    das Bild mit den zwei Folien gefällt mir – bei mir sind es manchmal mehr als zwei …

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