00310632

Es ist irgendwann nach Mitternacht, als ich den Rechner ausschalte, das Licht lösche. Das Fernsehprogramm ist nicht mehr sonderlich interessant, aber es wird als bewährtes Einschlafsystem seinen Dienst tun. Ich sehe mir die ersten Minuten eines typischen, amerikanischen Ermittlerkrimidingens an. Betrachte die Gesichter der Hauptfiguren, präge mir die dazugehörigen Stimmen und die bisher vorhandene Storyline ein.
Ich wechsele in den Videotext. Erfahrungsgemäss bieten sich die Seiten mit den Einschaltquoten an. Ich weiss zwar nicht, warum die meisten Sender diese Zahlenkolonnen auf schwarzem Untergrund auflisten, aber ich begrüsse diesen Umstand. 0031 und der Sleeptimer des TV beginnt, die eingestellte halbe Stunde rückwärts zu zählen. Das sollte reichen. Irgendwann werden die Stimmen leiser, die Handlung entgleitet mir, der Schlaf hat mich erreicht.

0233, sanft glimmt die Digitalanzeige im Dunkel. Wie die letzten Fetzen und Bilder meines Traumes. Ich habe mich tätowieren lassen. Den kompletten linken Arm. U. hat die Tätowiermaschine geführt. Florale Linien und Schwünge und 1 Wort. Daran kann ich mich erinnern. In meiner linken Ellenbeuge. Sie hatte es, als ich aufwache, noch nicht ganz beendet. Aber ich konnte es lesen, denn professionell wie es sein soll, war der Entwurf vorab auf die Haut gezeichnet. ‚Entscheidungsfindungsstörung‘
Ganz ehrlich, was will mir mein Kopf damit jetzt wieder sagen? U. werde ich das besser nicht erzählen. Sie wird mich sicher mit diesem Blick ansehen. Ich glaube, manchmal zweifelt sie doch, wenigstens in kurzen Momenten, an meinem Verstand.

In meinen Kopf ist ein Jahrmarkt eingezogen. Laut lärmend. Sowas passiert mir. Dann zieht die Welt in meinen Kopf ein. Oder ein Jahrmarkt. Oder Hongkong. Nichts davon habe ich jemals eingeladen. Passieren tut das trotzdem. Ich bin müde. Unfassbar müde. Aber in meinem Kopf, da ist es laut. Und hell. Und sprunghaft. Da dreht sich ein Karusell und ein Gespenst lacht in der Geisterbahn.

Ich drehe mich auf die andere Seite, ziehe die Decke über den Kopf. Aber es hilft nicht. Natürlich nicht. So liege ich einfach da, mit dem Jahrmarkt im Kopf und kann nichts dagegen tun. 0317. Ich schiebe die Bettdecke zur Seite, verlasse seufzend mein Bett. Ich lasse das Licht ausgeschaltet, gehe den Flur entlang. Auch im Bad bevorzuge ich es, den Lichtschalter zu ignorieren. Ich wohne lange genug in dieser Wohnung um mich auch ohne Licht sicher bewegen zu können. Zurück im Schlafzimmer setze ich mich auf die Bettkante. Greife zur Wasserfalsche. Ich möchte ja nicht schlaflos bleiben, weil ich dehydriere.
Es wird niemanden wundern, dass ich trotzdem nicht spontan zurück in den Schlaf finde. So bleibe ich liegen. Weiter, immer weiter. In meinem Kopf kreisen die Gedanken, Erinnerungen, Bilder und Ideen.

Ich glaube, Nachts, da hat mein seltsames Gehirn ADHS. Doch, wirklich. Ich kann kaum einen Gedanken zu einem sinnvollen Ende begleiten. Ich sage bewusst begleiten, denn mehr kann ich in solchen Nächten mit dem Synapsenfeuerwerk nicht tun. Einen Gedanken zu einem Ende führen? Nein. Begleiten. Zusehen. Abwarten. Ja. Meine Nervenbahnen machen mich zu einem passiven Zuschauer.

0359. Die Schlafzimmertür meines Nachbarn quietscht leise. Die Toilettenspülung rauscht. Offensichtlich quietscht die Badezimmertür also nicht. Dann noch einmal die Schlafzimmertür und einen Augenblick später ist es wieder still. In meinem Kopf flimmert es weiterhin.

0422 und der erste Vogel in dieser Nacht beginnt zaghaft zu zwitschern. Nach einiger Zeit kommt ein weiteres, anderes Zwitschern dazu. Irgendeine meiner Nervenzellen ist sehr begeistert, hüpft aus der wild durcheinander quatschenden Menge. ‚Ah! Ein Vogel! Oh, nein, 2 Vögel! Toll! War das gerade eine Amsel? Ein Spatz? Ein Rotkehlchen? Oh! Oh!‚ Jetzt tippelt sie aufgeregt von einem Fuss auf den anderen. ‚Nein! Ich weiss! Das ist ein Zaunkönig!‘ Irgendwo, aus der brabbelnden Menge heraus, ruft eine der anderen Zellen ein beherztes ‚So ein Quatsch! Im Leben ist das kein Zaunkönig. Das ist ein Rotkehlchen, Idiot.‘ Willkommen in der ornithologischen Abteilung meines Kopfes.

Ein kleines Stück weiter rechts auf meinem Jahrmarkt hat jemand zeitgleich eine Leinwand aufgestellt. Bilder aus dem Wald. Ich kann mich erinnern, wie ich mit meiner Oma durch den Wald lief und sie irgendwann, als vor uns in einem Baum ein Vogel zwitscherte, zu mir sagte ‚Hast du das gehört? Das war ein Rotkehlchen.‘ Meine Oma wusste solche Dinge. Meine Oma hat mir beigebracht, auf einem Grashalm zu pfeifen. Ich kann mich an viele Spaziergänge mit ihr erinnern. An die Blindschleiche im hohen Gras. An die Vögel und die Pflanzen. An diesen einen Satz. Aber ich kann mich nicht mehr an das Zwitschern des Vogels erinnern. Ich weiss nicht mehr, ob das, was ich da draussen gerade eben gehört habe, wirklich ein Rotkehlchen war. 0503 und ich bin traurig, weil wir einfach Dinge vergessen. Dinge, die wir gern ein Leben lang behalten hätten.

Draussen läuft die Nachbarkatze durch die Kieselsteine im Beet, das an der Hauswand entlang führt. Ich kenne dieses Geräusch inzwischen. Anfangs habe ich mich noch oft Nachts, wenn ich von einer Feier oder einem Barbesuch nach Hause kam, bei diesem Rascheln und Knirschen erschrocken. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und auch wenn ich kein Katzenmädchen bin, mag ich diesen schwarz-weissen Kater. Mein Hirn bietet die passende Musik dazu an. Peter Fox singt Ich Steine, Du Steine.

0512. Die Nachbarin unter mir duscht. Sie duscht 8 Minuten. So mischen sich jetzt meine Bilder und Erinnerungen mit dem Rauschen des Wassers. Die Vögel draussen sind inzwischen alle wach und zwitschern in einem ausgesprochen engagierten Wettstreit. Fast lauter als das Durcheinander in meinem Kopf.

0524. Ich kann den Schlaf spüren. Würde ihn gern in meine Nähe lassen. Aber es will mir nicht gelingen. Immer wieder ist es, als würde es doch gehen. Loslassen, hinabsinken in das Dunkel des Schlafes. Dann verblasst dieses Gefühl, die Schwere entgleitet mir wieder, es bleibt nur warten auf den Schlaf.

0552 und ich verliere die Hoffnung, das es noch gehen wird. Das ich den Weg zurück in den Schlaf finden können werde. Ich schiebe die Bettdecke erneut zur Seite, verlasse das Bett. Die einzig verlässlich Methode, das Brandungsrauschen in meinem Kopf sanft verebben zu lassen, ist ihm einen Weg, ein Ventil, zuzugestehen. Ich gehe den Flur entlang. Jetzt brauche ich nicht mehr über den Lichtschalter nachdenken. Die Sonne ist bereits über den Hausdächern aufgegangen, fällt goldenwarm durch die Fenster. Ich schalte den Rechner ein, mache mir einen Kaffee. Lege Zigaretten und Aschenbecher bereit. Als der Rechner hochgefahren ist, starte ich die Playlist, die mir für solche Momente einen sanften Klangteppich unterlegt.

0632. Willkommen im Jetzt.

10 Reaktionen zu “00310632”

  1. aebby

    jetzt ist auch der Lesestoff im Feedreader angekommen ;-) … über diese synaptischen Konzerte müssen wir mal bei einem Eimer Kaffee philosophieren – ich kenne das auch nur zu gut. Und mit jeder Stunde die verstreicht wird die Stimme im Hinterkopf lauter, die unnötigerweise davor warnt, dass der potentiell verbleibende Schlaf nicht mehr reichen würde um halbwegs sinnvoll über den nächsten Tag zu kommen.

    Wenn es der Tag hergibt, ist aber der Nachmittag eine gute Gelegenheit um nochmal an der Matratze zu lauschen, dann ist es meist auch im Kopf leiser.

  2. aleks

    du armes !!!!!!!!!!!
    das gefühl, keinen schlaf zu finden kennt glaube ich jeder.. ganz besonders schlimm finde ich es, wenn man eine stunde bevor der wecker „schellt“ in tiefschlaf verfällt.
    ich wünsche dir, dass du heute mittag n stündchen schlafen kannst und heute nacht das nachholen kannst, ohne dass dein hirn dich überholt.

  3. Tilla Pe

    Schokoladennächte.
    Ich versuche es immer, mit Schokolade. Gelingt selten. Wird an den Hüften sichtbar. Hat oft zur Folge, dass sich in den Tagen danach irgendein Fenster auftut. Ich drücke Dir die Daumen.

  4. berni

    0215

    plink, die augen fallen auf,hellwach. die blase meckert rum, dass ich vorm zu bett gehen mal wieder zu viel getrunken habe, silke singt mir ein lied vom starken holzfälller.

    ich rolle aus dem bett, torkle ins bad, denke an einen blogeintrag, den ich gestern abend, schon fast im halbschlaf überflogen habe, denke..das passt ja wunderfein, fahre den rechner hoch, tippe wirres zeuch.. :-)

    wachnächte kenne ich zur genüge, oftmals verzweifle ich an dem gedanken, dass ich den ganzen nächsten tag LKW fahren muss. so wie nachher..um 6 vom hof..und ich weiß genau, dass ich einen 12 stunden tag haben werde.

    wenn ich am nächsten tag frei habe, fahre ich in den hafen..zum knipsen..oder einfach so zum glotzen und durchatmen.

    jetzt aber stopfe ich mir mangels ohropax nassgesabberte tempotücher in die ohren und lege mich wieder hin.

    gute nacht meine schnuckelchen..ich hab euch alle lieb ;-)

  5. frauvivaldi

    Das Schlimme daran ist nicht der Mangel an Schlaf, sondern die Gedanken, die einen nicht loslassen, verfolgen, bedrängen, jedoch nicht logisch und hilfreich sind, sondern zermartern und zermürben.
    Ja, das kennt man. Das sind die Ängste, die Dich plagen, ob Du Dich richtig entschieden hast, ob Du davon leben können wirst, ob Du damit glücklich wirst.
    Zum Glück ist das meist vorbei, wenn morgens die Sonne aufgeht. Denn dann fällt Dir wieder alles ein – die Gründe, wegen derer Du diese Entscheidungen getroffen hast. Und Du weißt, alles wird gut.

    Einen ganz reellen Tipp: mach in solchen Fällen den Fernseher einfach wieder an, such Dir irgendeine uralte Serie in den hinteren Kanälen. Du wirst vielleicht nicht gleich wieder einschlafen können, aber das Karussell gibt bald Ruhe.

  6. spot

    So stelle ich mir solche Nächte vor. Denn selbst schlafe ich eigentlich immer innert Minuten/Sekunden ein, wenn ich mich irgendwo hinlege.

    Mindfucking lässt sich in der Tat am besten durch gezielte Fokussierung beenden. aha, aha..

  7. Nika

    Inzwischen bin ich wieder ausgeschlafen. Somit sogar für meine Umwelt erträglich. Danke für’s Mitfühlen :)

    …und Hellö spot :) Dir ist schon klar, dass ich kurz neugierig bin, wie du hier gelandet bist, oder?

  8. spot

    hellö, hellö
    das kann ich nun selbst gar nicht mehr so genau nachvollziehen. aber es wird wohl über die Blogrolls und deren Blogrolls gekommen sein.

    Mein Feedreader hat Dich jedenfalls schon länger auf dem Radar.

  9. lordfoltermord

    … und erneut konnte Dein schnuffiger Wecker nicht zum Einsatz kommen, menno …

    Einen von den vielen tausend nächtlichen Gedanken schnappen, in auf eine Schaukel setzen und konzentriert beim Schaukeln zusehen, alles andere interessiert jetzt nicht. Auf einmal verwandelt er sich in ein Schaf und dann …gähn …also, dann …*schnaarch*…

  10. Nadja

    Synaptische Konzerte, das ist verdammt gut. So wie dz schreibst, habe ich manchmal das Gefühl, irgendwo ganz in der Nähe zu sein. Sein zu dürfen. Danke

    Ps. Das mit den ornitologischen Diskussionen im Kopf kenne ich auch.

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